Mir fehlt heute im Bundestag die Diskussionskultur – Welt.de, 03.09.2017

Nach 23 Jahren verlässt Dagmar Wöhrl (CSU) den Bundestag. Sie attestiert vielen Abgeordneten eine vorgefertigte Meinung und zu wenig Fachwissen. Die Ex-Miss-Germany kehrt nun zurück ins Showbiz.

"Es gibt oft nur noch Schwarz oder Weiß, kein Grau mehr": Die CSU-Bundestagsabgeordnete Dagmar Wöhrl scheidet mit einiger Ernüchterung aus dem dem Parlament aus Quelle: Amin Akhtar
„Es gibt oft nur noch Schwarz oder Weiß, kein Grau mehr“: Die CSU-Bundestagsabgeordnete Dagmar Wöhrl scheidet mit einiger Ernüchterung aus dem dem Parlament aus. Quelle: Amin Akhtar

Als die Herren sahen, wo Dagmar Wöhrl ihr Kreuz gemacht hatte, bekamen sie einen roten Kopf. Wirtschaftsausschuss! Wollte die Quereinsteigerin aus Nürnberg, die damals im Jahr 1994 mit 40 Jahren in den Bundestag eingezogen war, ernsthaft in dieses Gremium? Der Wirtschaftsausschuss war doch für erfahrene Politiker reserviert.

Überhaupt: für Politiker, nicht Politikerinnen. „Familie, Senioren, Frauen, Gesundheit, in diese Ausschüsse sollte ich doch bitte gehen, wurde mir von den Männern nahegelegt“, erzählt die CSU-Frau heute; 23 Jahre, nachdem sie ihr Kreuz zum ersten Mal nicht da gemacht hatte, wo man es von ihr erwartete.

Von Wöhrl wusste der gemeine Politiker damals wenig. Es war die Zeit der ausgehenden Bonner Republik. Wöhrl hatte reich geheiratet, und sie war einmal Miss Germany. Das war bekannt. Dass sie Rechtsanwältin und Unternehmerin war? Hm. Manchem Kollegen spukten Bilder aus einem Pseudoaufklärungsfilm der frühen 70er-Jahre im Kopf herum, in dem Wöhrl eine Minirolle hatte. Damit war sie in Gesellschaft einiger Stars der Bundesrepublik.

Aber Wöhrl war eben nicht im Showbiz geblieben, sondern in die Politik gegangen. „Meine Vergangenheit war eine Hypothek. Es kostete schon viel Energie, die Vorurteile auszuräumen. Vielleicht bin ich deshalb zu einer Aktenfresserin geworden.“

Inzwischen ist ihr Büro im Paul-Löbe-Haus des Bundestages fast aktenfrei. Denn Wöhrl hört auf. Die Zeit sei reif. „Im Ausschuss für Entwicklungspolitik war ich schon die dienstälteste Abgeordnete.“ Zuletzt leitete sie den Ausschuss. „Mir fehlt heute im Bundestag die Diskussionskultur, die ich anfangs kennengelernt habe. Heute gehen sehr viele Kollegen mit einer vorgefertigten Meinung in die Sitzungen. Es gibt oft nur noch Schwarz oder Weiß, kein Grau mehr. Dass der Bundestag immer größer wird, leistet dem Verfall der Debattenkultur noch Vorschub“, beklagt sie. Die Politik spiegle damit einen gesellschaftlichen Trend.

Die Akten sind fast alle weg: Wöhrl in ihrem Büro im Paul-Löbe-Haus des Parlaments Quelle: Amin Akhtar
Die Akten sind fast alle weg: Wöhrl in ihrem Büro im Paul-Löbe-Haus des Parlaments. Quelle: Amin Akhtar

„Wir machen inzwischen viel zu viele Gesetze“, sagt Wöhrl. Die einzelnen Vorhaben seien oft nicht transparent genug. „Mit Ausnahme der Fachpolitiker sollen Politiker über Sachen abstimmen, über die viele von ihnen oft bis zum Schluss viel zu wenig wissen.“ Wöhrl fände es gut, wenn einige Gesetze ein Verfallsdatum hätten. Vor allem sollte dies für Subventionen gelten. „Nicht diejenigen sollten sich rechtfertigen müssen, die sie abschaffen, sondern diejenigen, die sie behalten wollen.“ Staatliche Regulierung ist ihr ein Graus. Sie ist Ordnungspolitikerin alter Schule.

„Sie kam bei den Leuten immer besser an als in der Partei“

Dass die Fluggesellschaft Air Berlin nach Meinung vieler Kollegen in der Lufthansa aufgehen solle, missfällt ihr sehr. Nicht von ungefähr. Ihr Mann Hans Rudolf kündigt entgegen anderslautenden Berichten ein Angebot für Air Berlin an. Die Wöhrls sind eine reiche Familie. Sohn Marcus führt eine Hotelkette. Dagmar Wöhrl selbst sitzt in zahlreichen Aufsichtsräten. Sie gehört zu den Top-Nebenverdienern des Bundestags, was oft Gegenstand von Kritik war. Dass ein Politiker „reich“ ist, ist ein Problem in einem Land, das sich seine Volksvertreter am liebsten im Ehrenamt wünscht und eine Kanzlerin feiert, die in die Oper seit 20 Jahren den gleichen Kimono anzieht.

Zudem machte sich Wöhrl auch bei Kollegen verdächtig, weil sie nicht „von unten“ kam. „Dagmar Wöhrl kam bei den Leuten immer besser an als in der Partei, das ist eben so, wenn man sich nicht von unten durch die Partei gearbeitet hat, leider“, sagt ein Spitzenpolitiker, der sie lange kennt. Politkarrieren in CDU und CSU beginnen eigentlich im Teenageralter. Wer die Ochsentour nicht gemacht hat, kommt bisweilen weit, aber selten nach ganz oben.

Als Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium war sie bis 2009 Mitglied einer Regierung, zur Hochzeit der Finanzkrise. „Da sind Freundschaften liegen geblieben.“ Nicht vergönnt war ihr ein Ministeramt. „Ich bin mit meinem politischen Werdegang sehr zufrieden. Wenn mir aber das Entwicklungshilfeministerium angeboten worden wäre, hätte ich dies sicherlich nicht ausgeschlagen.“

Die Initiative, sie in die Politik zu holen, war vom späteren bayerischen Ministerpräsidenten Günther Beckstein ausgegangen. Der wies einen der Seinen an, Wöhrl 1990 zu überreden, für den Nürnberger Stadtrat zu kandidieren. Sie hatte Zweifel, ihr Mann zerstreute sie. „Hätte er gewusst, dass der Weg mich bald in den Bundestag führt, hätte er wohl anders reagiert.“

Wöhrl gewann ab 1994 den Wahlkreis Nürnberg Nord immer direkt. Nur einmal scheiterte sie, 1998, die Schröder-Wahl. Sie war aber über die Liste abgesichert. „Ich muss sagen, die folgenden Jahre in der Opposition waren sehr spannend. Denn es war die Zeit der Agenda 2010.“

Wöhrl war Sprecherin für Wirtschaftspolitik und damit Ansprechpartnerin für die rot-grüne Regierung. Erfahrung hatte sie inzwischen reichlich. Denn natürlich hatte sie sich nicht abbringen lassen, in den Wirtschaftsausschuss zu gehen.

Nach außen wurde Wöhrl oft mit anderen Themen assoziiert. Etwa mit ihrem Einsatz für die Homo-Ehe. „Lange war ich da in meiner Partei allein. Aber ich habe einen großstädtischen, vielseitigen Wahlkreis.“ Als einzige CSU-Politikerin gehörte sie einer Gruppe an, die als „Wilde 13“ versuchte, die Union 2013 von der Gleichstellung Homosexueller beim Ehegattensplitting zu überzeugen. Natürlich stimmte Wöhrl unlängst mit Ja zur Ehe für alle. Auch wenn ihr das Vorpreschen der SPD missfiel: „Das war ein Vertragsbruch, und ich hoffe, dass meine Kollegen dies nicht vergessen haben, wenn wieder über eine Koalition verhandelt werden sollte.“

Stolz ist sie darauf, dass 2002 auf ihre Initiative der Tierschutz ins Grundgesetz kam. Auch wenn das noch nicht reiche: „Wir brauchen einen eigenen Tierschutzbeauftragten der Bundesregierung.“

„Mein kleiner Krieg mit Sarkozy“

Ihre Leidenschaft galt auch Kunst und Kultur – und U-Booten. „Ich habe als Staatssekretärin wahnsinnig gern unsere maritime Wirtschaft beim U-Boot-Verkauf unterstützt. Das war mein kleiner Krieg mit Nicolas Sarkozy. Er kam zu den Partnern immer mit einer riesigen Entourage, ich war meist allein unterwegs.“

"Keiner der Männer traute mir zu, dass ich das kann": Als maritime Koordinatorin musste sich Wöhrl schnell in die Materie einarbeiten. Quelle: Amin Akhtar
„Keiner der Männer traute mir zu, dass ich das kann“: Als maritime Koordinatorin musste sich Wöhrl schnell in die Materie einarbeiten. Quelle: Amin Akhtar

Als Staatssekretärin wurde Wöhrl maritime Koordinatorin der Kanzlerin. „Es war ein wenig so wie damals, als ich in den Wirtschaftsausschuss wollte. Keiner der Männer aus dem maritimen Bereich traute mir zu als Frau und Bayerin, dass ich das kann. Ich habe mir alle Akten des Ministeriums bringen lassen, die es dazu gab, und habe neun Tage bis zur Maritimen Konferenz fast schlaflos alles durchgearbeitet.“ Bei der Konferenz leistete sie sich keine Patzer. „Manchmal entscheidet eine einzige Stunde über die 1000 folgenden.“

Wie grausam wahr dieser Satz ist, erfuhr Wöhrl 2001. Damals verunglückte ihr 13-jähriger Sohn Emanuel, als er beim Versuch, auf das Dach des elterlichen Hauses zu klettern, das Gleichgewicht verlor. „Jeder geht anders mit so einem Schicksalsschlag um. Es war nichts mehr so, wie es war. Geholfen hat mir auch, dass ich mich gezwungen hatte, bald wieder zu arbeiten. Hätte ich hingeworfen, weiß ich nicht, wie ich aus dem tiefen Loch herausgekommen wäre. Dennoch vergeht der Schmerz einer Mutter nie.“

Künftig mehr Zeit für klassische Musik: Wöhrl im Kulturkaufhaus Dussmann in Berlin. Quelle: Amin Akhtar
Künftig mehr Zeit für klassische Musik: Wöhrl im Kulturkaufhaus Dussmann in Berlin. Quelle: Amin Akhtar

Um die Stiftung, die den Namen ihres Sohnes trägt, will sie sich nun verstärkt kümmern. Die Organisation fördert bedürftige Kinder. Ansonsten freut sie sich auf Besuche in der renovierten Berliner Staatsoper. Auf Stunden, die sie in der Klassikabteilung des Kulturkaufhauses Dussmann zubringen wird – und endlich auf eine Führung im Bundestag. „Dann kann ich jedes Kunstwerk ausführlich anschauen.“ Ihre Wohnung in Berlin behält sie.

Ab 5. September wird sie zudem in der Gründersendung „Die Höhle der Löwen“ auf Vox zu sehen sein: Firmengründer bewerben sich mit ihren Ideen um Geld von Investoren. Eine davon ist Wöhrl. Die Staffel ist abgedreht. Welche Deals sie bekommen hat, will sie nicht verraten.

Mit 63 Jahren kehrt sie damit ins Showbiz zurück. „Viele Gründer sahen in mir nur die Politikerin, nicht die Unternehmerin.“ Für Wöhrl bleibt es wohl eine Lebensaufgabe, Leuten ihre Meinungen auszutreiben. Nur begibt sie sich dabei nicht mehr in die Höhle der Löwen wie damals, als sie sich für den Wirtschaftsausschuss bewarb; sie gehört heute selbst zu den Löwen.

Welt.de
Thomas Vitzthum
03.09.2017