Joe Biden macht mit seinen Emotionen Politik – Deutsche Politiker behalten Schicksalsschläge überwiegend für sich – Badische Zeitung, 11. April 2021

In den USA gehören Gefühle zum politischen Geschäft. Mit Joe Biden als Präsident gilt das im Besonderen. Der Kontrast zu Vorgänger Trump ist extrem – ebenso wie der Unterschied zu Deutschland.

Joe Biden kommen die Tränen. Es ist der 19. Januar, der Tag vor seiner Vereidigung als US-Präsident. Biden verabschiedet sich aus seinem Heimat-Bundesstaat Delaware, bei einer Rede an einem Stützpunkt der Nationalgarde, der nach seinem verstorbenen Sohn Beau benannt ist. Mehrfach bricht Biden die Stimme. Er sei stolz, an eben diesem Ort zu sprechen, sagt der Demokrat, mit Tränen im Gesicht. „Ich bedaure nur eines – dass er nicht hier ist.“ Denn Beau sei derjenige gewesen, der Präsident hätte werden sollen.

Der mächtigste Mann der Welt scheut sich nicht, vor laufender Kamera zu weinen. Das haben auch andere US-Präsidenten schon getan, etwa Barack Obama. Auch unter Abgeordneten, Senatoren, Politikern und Offiziellen aller Art sind Gefühlsausbrüche in den USA nichts Ungewöhnliches. Im US-Kongress werden regelmäßig Tränen vergossen. Doch Biden sticht heraus. Er hat in seinem Leben ein Maß an privatem Schmerz ertragen müssen, an dem ein Mensch leicht zerbrechen kann. Als junger Mann verlor er 1972 seine damalige Frau Neilia und die gemeinsame Tochter Naomi bei einem Autounfall. Seine Söhne Beau und Hunter überlebten. Es blieb nicht bei der einen Katastrophe: 2015 starb Bidens Sohn Beau im Alter von 46 Jahren an den Folgen eines Hirntumors. Und Hunter hatte mit schwerer Drogensucht zu kämpfen.

Biden spricht oft und viel über die schweren Schläge in seinem Leben. In Interviews, bei öffentlichen Reden, in Gesprächen mit Bürgern. Seine Botschaft: Ich weiß, wie es ist, zu leiden und zu trauern, wie es sich anfühlt, am Kummer fast zugrunde zu gehen, und wie es ist, trotzdem weiterzumachen. Das Ausmaß, in dem Biden persönliche Erlebnisse und Emotionen gezielt in seiner politischen Arbeit einsetzt, ist selbst für US-Verhältnisse beachtlich. Und der Kontrast zu seinem Amtsvorgänger Donald Trump könnte größer nicht sein.

Trump kam in der verheerenden Corona-Krise mit täglich mehreren Hundert oder Tausend Toten in den USA kaum ein tröstendes Wort über die Lippen. Er blendete die Corona-Toten fast komplett aus, zweifelte ihre Zahl sogar öffentlich an. Biden dagegen trägt nach eigenen Worten jeden Tag eine Notiz bei sich, auf der die aktuelle Zahl der Corona-Toten in den USA vermerkt ist. Inzwischen sind es weit mehr als eine halbe Million Tote – eine Zahl jenseits des Vorstellbaren.

Jedes Mal, wenn Biden über die Menschen redet, die nach einer Infektion gestorben sind, spricht er auch über die Angehörigen, die mit dem Verlust fertig werden müssen. Er wisse, wie sich das anfühle, sagt Biden dann. Wie es sei, auf einen leeren Platz am Küchentisch zu starren, an dem zuvor ein geliebter Mensch gesessen habe.

Auch nach den jüngsten größeren Schussattacken mit mehreren Toten in den USA verwies das Weiße Haus bei den Beileidsbekundungen an die Angehörigen auf Bidens eigene Erfahrung mit Verlust. Er selbst sagte bei einer Veranstaltung zu Waffengewalt am Donnerstag, wer einen geliebten Menschen beerdige, begrabe immer auch einen Teil seiner eigenen Seele. Bidens Kummer ist dauerpräsent. Nach vier Jahren zwischenmenschlicher Kälte unter Trump hat das Land wieder einen Präsidenten, der sich in der Rolle als Tröster der Nation sieht.

In der deutschen Politik haben Emotionen und Privates dagegen nicht viel Platz, gelten im Zweifel als unsachlich, irrational, störend. Ein Abgeordneter, der bei einer Rede im Parlament zu weinen beginnt? Eine Ministerin, deren Stimme bei einem Auftritt aus Rührung versagt? Eine Kanzlerin, der bei einer Ansprache Tränen über die Wangen laufen? In Deutschland extrem rar bis undenkbar. Schicksalsschläge behalten Politiker hier überwiegend für sich, Krankheiten bringen sie nur an die Öffentlichkeit, wenn es sich nicht vermeiden lässt, Themen wie Sucht oder Depression im eigenen Leben oder in der eigenen Familie sind quasi tabu. Und Journalisten halten sich mit Blick auf das Privatleben von Politikern weit mehr zurück als in den USA.

Dagmar Wöhrl hat in ihrem Leben ähnlichen Schmerz erfahren wie Biden, doch sie ging anders damit um. Die frühere CSU-Bundestagsabgeordnete und Wirtschaftsstaatssekretärin verlor 2001 ihren Sohn durch einen Unfall. Der Zwölfjährige stürzte damals daheim vom Dach des Familienhauses und starb. Sie habe in der ersten Zeit danach nur „funktioniert“, erzählt die 66-Jährige. „Der einzige Gedanke, der in meinem Kopf war, war: Wie soll ich überhaupt weiterleben? Und warum?“

Irgendwann habe sie versucht, in eine Arbeitsroutine zurückzukehren, mit großer Mühe. „Nachts, wenn ich mich auf den nächsten Tag vorbereitete, überkam mich oft meine Trauer und meine Tränen liefen einfach an mir herunter“, sagt Wöhrl. „Aber ich wollte nicht immer „die Politikerin, die ein Kind verloren hat“ bleiben, ich wollte meiner Arbeit wegen wahrgenommen werden. Also stürzte ich mich in noch mehr Projekte, übernahm mehr Reden, saß über Gesetzestexten.“

23 Jahre lang hatte Wöhrl einen Sitz im Bundestag, 2017 schied sie aus dem Parlament aus. In ihrer aktiven politischen Zeit sprach sie kaum öffentlich über den Unfall ihres Sohnes. Ihr sei klar gewesen, „dass ich – solange ich politisch aktiv war – den Tod meines Sohnes nicht „politisch verwerten“ wollte. Ich wollte immer wegen meiner Leistung wahrgenommen werden, nie wegen eines Schicksalsschlages.“

Empathie zu empfinden und diese auch zu zeigen, sei ein Muss für jeden Politiker, meint Wöhrl. „Dazu sollte er auch ohne Schicksalsschläge in der Lage sein.“ Private Erlebnisse und Emotionen zu teilen, mache einen Politiker nahbarer. In den vergangenen Jahren habe sich durch die sozialen Medien in dieser Hinsicht viel getan. Aber das Ausmaß in den USA sei ihr „ein bisschen „too much“„.

Gerade im Wahlkampf ist auch Persönliches gefragt. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) etwa war in vergangenen Wahlkämpfen Meisterin darin, dosiert private Schnipsel unters Volk zu bringen, ohne substanziell etwas über ihr Privatleben oder ihre Gefühlswelt zu offenbaren. Wöhrl meint: „Grundsätzlich glaube ich (…), dass wir in Zukunft mehr und mehr Persönlichkeitswahlen erleben werden.“ Die Menschen bräuchten Identifikationsfiguren. „Dazu gehört auch, dass der Kandidat ein Stück weit Privates preisgibt. Wenn es im Rahmen bleibt.“

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11. April 2021